2 JUBILÄUM-ESSAYS VON TOM DE TOYS © POEMiE™

Erstveröffentlicht in den "connection spirit"-Ausgaben 11-12/2014 & 1-2/2015

2 Essays zum 100.Geburtstag von Alan Watts 2015
Jubiläum-Essays 2015 über Alan Watts.pdf
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1. DER ERSTE NEUROSOZIOLOGE ?

ALAN WATTS IST SCHON MEHR ALS 40 JAHRE TOT – SEINEN 100.GEBURTSTAG FEIERN WIR TROTZDEM

Früher stand sein Bestseller "KOSMOLOGIE DER FREUDE" (1962) in jeder anti-elitären Esoterik-Bibliothek, aber jetzt sucht man vergeblich nach seinen Büchern. Jenseits aller Klischees, die wie ein Mythos um ihn ranken, etwas über Alan Watts zu sagen, bedarf der Adaption seines eigenen Denkens. So entstand dieser erste von zwei Essays, ohne ihn als Mitbegründer der humanistischen Psychologie oder als Hauptverantwortlichen für unser Interesse an fernöstlicher Philosophie zu betiteln, obwohl diese Einschätzungen seiner Bedeutung nicht falsch sind. Für Alan selbst war es "bedeutender", daß er Anteil haben durfte an einem Zeitgeist, den er nicht verursachte, sondern erspürte, und daß er andere dafür begeistern konnte. Wer sich für profilneurotische Verherrlichungen seiner Person interessiert, wird leicht im Internet fündig – der Essay folgt stattdessen dem "Plauderton", den Watts selber gern anschlug

"Es soll keine lineare Darstellung werden, denn ich halte nichts von der chronologischen oder historischen Illusion, welche meint, daß die Ereignisse in einer Einbahnspur ablaufen, brav eins nach dem anderen. (...) Deshalb ziehe ich Bücher vor, die ich überall aufschlagen und zu lesen beginnen kann - Bücher, in denen ich wie in einem Garten umherstreifen kann und in denen ich nicht wie bei einem Tunnel oder Labyrinth bei A losgehen und bei Z ankommen muß."  (1)

Alan Watts wurde am 6.1.1915 in England geboren und wanderte schon als junger Mann nach Amerika aus, wo er während des 2.Weltkrieges dank seiner ersten Publikationen Berühmtheit erlangte. Um ihm gerecht zu werden, macht es nur wenig Sinn, seine Lebensdaten herunter zu beten, damit auch derjenige Leser einen ersten Eindruck von ihm bekäme, der diesen Namen noch nie gehört hat. Stattdessen will ich versuchen, gemäß Alans eigenem Ansatz von Kontexten zu plaudern, die seine Bedeutung als Autor und Aktivist einer Epoche beleuchten. Sich selbst als Person nicht zu wichtig zu nehmen sondern im großen Zusammenhang zu begreifen, erschien Watts zeitlebens realitätsnäher als die Profilneurosen der Gurus und Akademiker seiner Zeit. Denn sein Begriff von Realität war vom ersten Buch an ("VOM GEIST DES ZEN", 1935) geprägt von der transpersonal-humanistischen Idee, daß der Mensch erst dann "ganz" sei, wenn er sich ganzheitlich im Universum empfinden könne:

"So wie man jeden Punkt auf der Oberfläche einer Kugel als den Mittelpunkt der Oberfläche ansehen kann, so kann auch jedes Körperorgan und jegliches Wesen im Kosmos als seine Mitte und sein Herrscher gelten. (...) So wie das Universum unser Bewußtsein produziert, so ruft unser Bewußtsein das Universum hervor, und diese Erkenntnis transzendiert und beendet die Debatte zwischen Materialisten und Idealisten (oder Mentalisten), Deterministen und Verfechtern des freien Willens, die das yin und das yang in den philosophischen Ansichten vertreten."  (2)

Die Bewußtheit darüber, daß Gott und die "letzten" Wahrheiten nicht in einer metaphysischen Sphäre für immer jenseits der Materie versteckt blieben, sondern der Dualismus in einer trivial-mystischen Wahrnehmung zu jeder Zeit in der normalen Alltagsroutine überwunden werden kann, wurde zum Hauptthema all seiner Werke und das hieß für ihn auch und vorallem: die Arbeit an sich selbst ernst zu nehmen, anstatt Theorien und Hypothesen zu erfinden, ohne sie am eigenen Leibe erfahren zu haben:

"Wir brauchen weder eine neue Religion noch eine neue Bibel, sondern eine neue Erfahrung – ein neues Selbst-Gefühl. (...) Das am stärksten gehütete Tabu aller Tabus, die wir kennen, ist das Wissen, wer oder was man tatsächlich hinter der Maske eines anscheinend eigenständigen, unabhängigen und isolierten Ichs ist. (...) Angesichts einer solchen Vorstellung scheint die Erkenntnis unmöglich oder sogar absurd zu sein, dass ich selber nicht nur in einem Tropfen bin, sondern in dem ganzen Schwall Energie, der sowohl die Galaxien als auch die Zellen in meinem Körper ausmacht." (3)

Watts wäre nicht Watts, wenn er nach vierzig Jahren Abwesenheit noch genauso gefeiert würde, wie damals als Bestsellerautor und heißbegehrter Vortragskünstler in Sachen "vergleichender" Religionswissenschaft. Er verschwand in den kalifornischen Bergen am 16.11.1973 so leise und nebenbei, wie man es Zen-Meistern nachsagt, obwohl er sich über solch einen Titel amüsiert hätte. Watts sah sich als ewigen Schüler des Lebens und vermittelte auch seinen Lesern und Zuhörern auf hohem, gebildeten Niveau, daß jeder Mensch alle Weisheit in sich selbst trägt und entdecken kann:

"Man ist nicht, wie Eltern und Lehrer einem weismachen wollen, ein bloßer Fremdling im Weltsystem, sondern gleichsam das Ende einer Nervenfaser, durch welches das Universum sich selbst betrachtet. Aus diesem Grund hat beinahe jeder Mensch tief im Inneren ein unbestimmtes Ewigkeitsgefühl. Wenige haben den Mut, sich dazu zu bekennen, denn das würde auf den Glauben hinauslaufen, daß man selbst Gott sei."  (1)

Vielleicht ist diese transreligiöse* Haltung auch mit daran Schuld, daß Watts sich nicht langfristig akademisch etablieren konnte (ein ähnliches Beispiel dafür aus demselben Umfeld ist der Psychiater Stanislav Grof, dessen Standardwerke ebenfalls nur in Insiderkreisen Beachtung finden), was er zu Lebzeiten sowieso mehr oder weniger absichtlich vermied, aber ganz gleich, welches seiner über 20 Werke man aufschlägt: in jeder Zeile steckt dieser erhabene Funken Bewußtseinsrevolution, der die Seele aus ihrem Kollektivkoma befreien soll. Watts schaffte es aufgrund seines Hangs zur ekstatischen Selbsterfahrung nicht nur interdisziplinär zu visionieren, wo andere gar keinen Zusammenhang erkannten, sondern er nahm seine Leser so ernst, wie er sich selbst ironisieren konnte. Das macht ihn noch heute im Vergleich zu der narzißtischen Tendenz populärwissenschaftlicher Schrift-steller sympathisch. Und weil seine Themen zwar direkt vom Zeitgeist der "San Francisco Renaissance" inspiriert sind, aber inhaltlich zeitlos, liest sich ein jedes der Bücher, als wäre es heute geschrieben. Er gehörte neben dem Physiker Fritjof Capra, mit dem er im Briefwechsel stand, zu den Ausnahme-Autoren seiner Zeit, die ganz selbstverständlich Ergebnisse aus Physik, Psychologie, Philosophie, Theologie und Soziologie in einer Gesamtschau zusammen dachten – bei Watts mit dem Schwerpunkt auf Taoismus und Zen-Buddhismus, oder bei genauerem Hinsehen: jenseits der Ismen die Bewußtwerdung des Individuums in einer bewußtlosen Gesellschaft. Sogesehen ließe sich Watts quasi als erster Neurosoziologe der Welt bezeichnen, lange bevor Neurowissenschaften mit ihren provozierenden Forschungsergebnissen Bewußtseinspionieren wie ihm Recht gaben. Mit seinem umfassenden Werk als subtiler Wegbereiter der Richtung humanis-tischer Psychologie, die das spirituelle Moment in ihr Individuationskonzept aufnahm, sowie seiner lebendigen Teilnahme am Zeitgeist der Beat- generation, schaffte er einen Brückenschlag zwischen unakademischer Subkultur und der konservativen Intellektualität, die ihn nicht ignorieren konnte, obwohl er zu wild und zu eigenwillig, zu kritisch und dabei zu offen und kommunikativ war, um ihn für den sterilen universitären Betrieb zu verein-nahmen. Man kann nur hoffen, daß Alan Watts irgendwann als einer der großartigen Freigeister des 20.Jahrhunderts rehabilitiert wird und seine vergriffenen Bücher nicht nur –wenn überhaupt– antiquarisch erhältlich sind, damit all seine "barbarisch heiligen" Gedanken rund um die gefühlte Gegenwart nutzbar gemacht werden können. Nur eine kleine "Erleuchtung" dient dem vielleicht besseren Verständnis der Werke, aber die ist laut Watts so naturgegeben, daß man nicht extra meditieren muß, bevor man zu lesen beginnt:

"Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Sandkorn und der Ewigkeit. Sie müssen sich die Ewigkeit nicht als etwas vorstellen, das im Sandkorn enthalten ist. Das Sandkorn IST die Ewigkeit. Genau so wenig unterscheidet sich die Tatsache, dass wir jetzt hier sitzen, vom Nirwana. So wie wir hier sitzen, sind wir im Nirwana. Sie brauchen weder zum Sandkorn noch zu unserem Hiersitzen einen philosophischen Kommentar abzugeben. Er erübrigt sich."  (4)

Glücklicherweise nimmt eines seiner vielen Kinder, sein Sohn Mark Watts, diese Ansage nicht wörtlich, sondern gibt immer mal wieder aus Mitschriften der unzähligen Vorträge und Tonbandaufnahmen neue Bücher heraus, die dann leichter erhältlich sind als die Titel, die damals bei Goldmann, Suhrkamp, Heyne, Dumont und Rowohlt erschienen. Sogar ein Dokumentarfilm ist mittlerweile in Amerika angelaufen, allerdings noch nicht nach Europa importiert. Hier scheint die Ära der eigenmächtigen, "authentischen" Bewußtseinsforschung abgelaufen zu sein, doch bei genauerem Hinsehen ist dann in Nischen ein Lichtblick zu erkennen: In psychiatrischen Kontexten ist Watts längst im therapeutischen Alltag angekommen, es gibt sogar mehrere Kliniken, die mit ihrer transpersonalen Ausrichtung explizit werben. Nur weiß der Laie nicht unbedingt, welche Bewegung als heimlicher Rückenwind diente, um jetzt in DEM Jetzt anzukommen, das traditionell fälschlicherweise als nahezu unerreichbar gilt:

"Die Ewigkeit ist das Jetzt, und in einer von der Verdrängung befreiten Schau der Dinge erweisen sich der physische Organismus und die natürliche Welt als die göttliche Welt. Aber solange das Leben als Kampf gegen den Tod aufgefaßt wird, kann dies nicht erkannt werden. (...) Die Aktivitäten des Lebens werden deshalb vom neurotischen Wiederholungszwang bestimmt, von einer Suche nach der Fortsetzung des Lebens, nach mehr und mehr Zeit, in der wir durch irgendein Wunder zu erfassen hoffen, was uns in der Gegenwart immer entgeht."  (5)

Zitatquellen aus dem Watts-Ouevre:
(1) = "ZEIT ZU LEBEN" (1972)
(2) = "DER LAUF DES WASSERS" (posthum 1975)
(3) = "DIE ILLUSION DES ICH" (1966)
(4) = "DIE RELIGION DER NICHT-RELIGION" (1965), in:

        "Buddhismus verstehen" (1995)
(5) = "PSYCHOTHERAPIE UND ÖSTLICHE BEFREIUNGSWEGE" (1961)

* transreligiös = gemeint ist nicht interreligiös,

sondern die Überwindung aller Religionen

2. SPÜREN WIR DAS EGO ?

JENSEITS VON NEUROBIOLOGIE UND BEHAVIORISMUS

Im Januar 2015 wäre der Bewusstseinspionier ALAN WATTS hundert Jahre alt geworden, er starb vor über vierzig Jahren. Selber bezeichnete er sich als "esoterischen Philosoph" und "philosophischen Entertainer", die akademische Zunft nannte ihn einen "Popularisierer", weil er möglichst einfache Sprache für seine wissenschaftlichen Erkenntnisse benutzte. Was ist von ihm übrig geblieben für unsere Zeit? Der zweite Versuch einer Annäherung an den großen Religionsforscher des 20.Jahrhunderts

"Einerseits bin ich ein schamloser Egoist: ich rede gern, unterhalte gerne andere und genieße es, im Rampenlicht zu stehen, und das ist mir dadurch gelungen, daß ich vielgelesene Bücher schrieb, im Radio und Fernsehen auftrat und vor großen Auditorien sprach. Andererseits bin ich mir darüber im klaren, daß das Ego namens Alan Watts eine Illusion, eine soziale Institution, ein Fabrikat von Worten und Symbolen ist ohne die geringste substanzielle Wirklichkeit; daß es innerhalb von fünfhundert Jahren (falls die menschliche Rasse dann nicht ausgestorben ist) völlig vergessen sein wird und daß mein physischer Organismus in kurzer Zeit zu Staub und Asche zerfällt. Und ich hege nicht die Illusion, daß eine Art individueller Seele, ein Spuk oder ein Geist, mein Ich überdauern wird."  (1)

Als ich am 16.11.2013 keinen Artikel zu seinem 40.Todestag in deutschen Medien fand, entschied ich mich, seinen 100.Geburtstag am 6.1.2015 zum Anlaß zu nehmen, um selber ein paar Gedanken zu seiner Ehre zu verfassen. Obwohl ich mittlerweile sein Gesamtwerk fast vollständig antiquarisch besitze und die deutsche Domain mit seinem Namen betreibe, bin ich kein Watts-Spezialist im Sinne eines akribischen Wissenschaftlers, der Fakten sammelt und Daten auswertet. Man könnte mich eher als Quereinsteiger bezeichnen, denn ich entdeckte Alan Watts für mich erst, als ich schon 40 war und mein ganz eigenes Weltbild erschaffen hatte. Aber vielleicht war genau das auch mein Glück; denn dadurch war ich immun gegen den esoterischen Fanatismus, der solche Figuren wie Watts umrankt, und konnte mich mit einer gesunden Neugier in die Lektüre seiner weit über 20 Bücher vertiefen, mit Themen wie: Taoismus, Buddhismus, Beat Generation, Meditation, Taijiquan, Sinologie, Zen, LSD, Spiritualität, Trans-personale Psychologie, Human Potential Movement, Humanismus, Herbert Marcuse, Abraham Maslow, Aldous Huxley, Timothy Leary, Sigmund Freud, C.G. Jung, die San Francisco Renaissance, das Esalen Institut – eine Liste von Namen und Kontexten, die nicht enden würde, weil Watts einerseits mittendrin im Geschehen verankert war, andererseits quasi der erste Neurosoziologe der Welt, indem er den modernen Mensch nicht nur aus möglichst vielen interdisziplinären Blickwinkeln beleuchtete, sondern vorallem "von innen", so daß es schwierig erscheint, ihm überhaupt ein einzelnes Etikett anzuhängen. Er war autodidaktischer Psychologe, Philosoph, Soziologe, Theologe und sogar Priester von seiner anfänglichen Ausbildung her, und ein entschiedener Gegner von Dogmen und Sektierertum. Eigentlich war er nur Autor seines ganz eigenen Lebens, aber das eben nicht nur schriftstellerisch, sondern vorallem als Redner, Vortragskünstler, Seminarleiter und Aktivist einer weltweiten sanften Verschwörung: einer Bewußtseinsrevolution, die noch immer nicht richtig institutionell etabliert ist, obwohl ihre Begriffe schon längst in der Alltagssprache und im Allgemeinwissen angekommen sind. Er wurde zum Sprachrohr einer ganzheitlichen Gegenkultur in der Mitte des 20.Jahr-hunderts, die sich nicht damit begnügte, vom Behaviorismus wie program-mierbare Roboter behandelt zu werden, sondern den Schwerpunkt des Menschen auf seine ureigensten ekstatischen Erfahrungen legte. Während Psychologen wie Henry A. Murray im Auftrag des CIA mithilfe von LSD-25 das Unterbewußtsein umprogrammieren wollten, um das Superego eines Weltmenschen zu entwickeln, der dadurch gegen Totalitarismus immun gemacht werden sollte, verfasste Watts selber auf Trip 1962 einen Bestseller der Flower Power Epoche: "KOSMOLOGIE DER FREUDE", eins seiner wenigen Bücher, die heute noch neu auf dem Buchmarkt erhältlich sind. Darin beschreibt er extrem sachlich und detailgenau die Wahrnehmung der Welt unter Einfluss der damaligen Modedroge, und schafft damit die von Dualisten als eigentlich für unmöglich erachtete Gratwanderung zwischen erweitertem Bewußtseinsdelirium und philosophischer Nüchternheit – wahrlich ein literarischer und wissenschaftlicher Geniestreich, der konser-vative Psychiater verunsicherte!

"Die Veröffentlichung meiner Bücher "PSYCHOTHERAPIE UND ÖSTLICHE BEFREIUNGSWEGE" und "KOSMOLOGIE DER FREUDE" Anfang der Sechziger Jahre brachte mich öffentlich und privat in Kontakt mit vielen führenden Vertretern der psychiatrischen Zunft, und ich war erstaunt darüber, daß sie offenbar einen Horror vor außergewöhnlichen Bewußtseinszuständen hatten."  (1)

Spätestens seit seinem zweiten Buch "DIE SANFTE BEFREIUNG" (Originaltitel: "DIE BEDEUTUNG DES GLÜCKS"), das er 1939 im Alter von 24 Jahren verfasste und das ihn mitten im 2.Weltkrieg zum begehrten Referenten vergleichender Religionswissenschaft machte, wußte man zwar, daß es Watts immer schon um mystische Erfahrungen, kosmisches Bewußtsein und Erleuchtung ging, aber daß derartiges Glück und kosmo-logische Freude auch und vorallem empirisch experimentell von Normal-sterblichen selbst erfahrbar und dann auch noch wissenschaftlich beschreib- bar sein könnten, war ein Tabubruch für viele Anhänger heiliger Traditionen, über deren elitäre Entfremdung vom direkten Gegenwartsbezug solcher religiösen Ideale sich Alan Watts zeitlebens köstlich amüsieren konnte:

"Die Abtötung des Ego ist der Versuch, etwas abzulegen, was es gar nicht gibt, oder – und das kommt auf dasselbe hinaus – das Gefühl loszuwerden, daß es ein Ego gibt. SPÜREN wir das Ego? Hören wir uns zuhören? Sind wir absichtlich bewußt, und wissen wir genau, wie man das Bewußtsein produziert?"  (1)

Watts bekannte sich nicht nur im zarten Alter von 15 Jahren zum Buddhismus als "Methode zur Klärung und Befreiung des eigenen Bewußtseins" (1) anstatt als Religion und kam als Londoner Mitglied der Buddhistischen Loge in Kontakt mit dem berühmten Zen-Professor D.T. Suzuki, was auch 1935 zu Alans erstem Buch "VOM GEIST DES ZEN" führte, sondern er stellte bereits damals existenzielle Fragen über Gott, die Gesellschaft und das Ich in einer pragmatisch-provozierenden Weise, die erst mit den Neurowissenschaften jüngerer Zeitrechnung salonfähig wurde.

Eine erstaunliche Persönlichkeitsentwicklung vom steifen Engländer zum spirituellen Alternativ-Amerikaner, die mit einer strengen anglikanischen Erziehung begann und mit der tanzenden Niederschrift seines letzten Buches "DER LAUF DES WASSERS" (posthum 1975 erschienen) endete. Dazwischen lagen Jahrzehnte der Neugier, des Wissensdrangs und der Fähigkeit, zwischen mystischen Selbsterfahrungen und allgemeinmensch-lichen Sorgen sowie den großen Weltproblemen Parallelen und Lücken zu sehen, die er in einem komplexen Plauderton abhandelte, als wären die Verstrickungen des Geistes in kulturelle Selbstlügen das trivialste und offensichtlichste der Welt. Durch diese Verbindung aus kritischer, sachlich-subtiler Beobachtungsgabe und lässiger Kumpanei mit dem Leser, schaffte er den Spagat zwischen intellektueller Analyse und hedonistischer Selbst-ironie. Sein Publikum lachte verzückt, weil er die Sehnsucht erfüllte, persönlich gemeint und erkannt zu werden, ohne sich dabei gemein und erniedrigt zu fühlen. Im Gegenteil: für Alan Watts stand der ganze Mensch mit allen Aspekten seines "heiligen" Naturells im respektvollen Mittelpunkt der Debatte, so wie auch er selbst völlig wertfrei dem Alkohol nicht weniger zugeneigt war als den Frauen und der meditativen Erleuchtung – ein ganzer Sinnesmensch mit ganzheitlichen Sinnfragen! Das machte ihn in den Augen von Skeptikern zum moralisch entgleisten Scharlatan und spirituellen Hochstapler, während er gleichzeitig für eine ganze Generation zum anti- akademischen Vorbild für das aufkommende "Neue Bewußtsein" avancierte.

Dabei war Watts eigentlich nur er selbst, aber so sehr SELBST, daß seine geistige Freiheit, seine Lebendigkeit, seine Produktivität und seine totale Toleranz entweder verschrecken oder faszinieren mußten. In der Rolle des Theologen enttarnte er Gott als Projektion des Mangels an Bewußtheit über das Einssein aller Materie. In der Rolle des Psychologen überlistete er das Ich als verbale Sackgasse der Selbstentfremdung. Und in der Rolle des Philosophen verwandelte er metaphysische "letzte" Fragen in Spürfragen für Anwesenheitsübungen, denn ihm war als Bewußtseinsforscher das entscheidende klar: es gibt nur die Gegenwart, gestern und morgen sind Abstraktionen des Gedächtnisses, während wir alles, was wir über das Leben verstehen können, im absoluten Jetzt und nur jetzt entdecken:

"Ich habe Leute vor den Kopf gestoßen, die meine Seminare besuchten, weil sie einen international berühmten Philosophen hören wollten, und statt dessen nur aufgefordert wurden, natürlich zu atmen und zu summen, damit ihre Stimme den Weg des geringsten Widerstands gehe wie fließendes Wasser. (...) Wenn eine Blume daher einen Gott hätte, wäre dieser keine transzendentale Blume, sondern ein Feld, und zwar ein Feld, wie es die Physik beschreibt, ein integriertes Energiefeld, das nicht nur blüht, sondern das auch >>erdet, regnet, sonnt, schmetterlingt, wurmt und bient<<. Eine sensible Blume würde durch ihre Wurzeln und durch ihre Membranen dieses ganze Feld erspüren und sich auf diese Weise selbst als eine wunderbare Manifestation des Ganzen erfahren."  (1)

Hinter solchen Vergleichen verbirgt sich der transpersonal-humanistische Ansatz einer psychotherapeutischen Strömung, die heutzutage so selbstverständlich in den klinischen Alltag eingeflossen ist, daß selbst die Patienten nicht ahnen, woher die Methoden ursprünglich stammen. Die jüngste Generation kennt bestenfalls "New Wave" Musik aus den 80ern, aber die zeitgleiche "New Age" Bewegung ist eher denjenigen unter uns in Erinnerung geblieben, die damals selber noch in der sogenannten Esoszene nach Sinn und Satori suchten. Doch die Entstehung von medizinischen Selbsterfahrungsgruppen reicht bis 1962 zurück, als das kalifornische Esalen-Institut gegründet wurde, wo auch Fritz Perls seine Gestalttherapie entwickelte und Korephäen wie Abraham Maslow und Carl Rogers zum Lehrkörper gehörten. Den Auftakt dort machte kein anderer als Alan Watts:

"So arrangierten verschiedene Bekannte Seminare bei sich zu Hause. Diese fanden regelmäßig statt, und die enge Verbindung von Big Sur mit unseren informellen Seminaren führte schließlich zur Gründung des Esalen Instituts durch Michael Murphy und Richard Price. Ich leitete die erste Veranstaltung des Instituts und bin wiederholt zurückgekehrt, um dort zu arbeiten, nicht nur deshalb, weil die Atmosphäre und die heißen Schwefelbäder verlockend sind, sondern weil ich glaube, daß dort etwas geschieht, was für die Zukunft der Pädagogik sowie der Religion von entscheidender Bedeutung ist. Esalen tritt für Erziehung und innere Entwicklung um ihrer selbst willen ein und beschäftigt sich mit grundlegenden Dingen, die üblicherweise nicht an den Schulen gelehrt werden."  (1)

Aber warum taucht das Phänomen Alan Watts heutzutage nicht mehr selbstverständlich im öffentlichen Diskurs auf, oder wenn, dann nur noch in einschlägigen Insiderkreisen? Sein Werk ist aktueller denn je, seine Ansichten so progressiv und brisant wie am Tage ihres ersten Erscheinens vor einem halben Jahrhundert und früher! Die Überwindung dualistischer Denkweisen führt immer noch zu ideologischen Kontroversen, besonders das Leib-Seele-Problem hält sowohl Quantenphysiker, Neurobiologen und Genforscher als auch Neurophilosophen noch immer und jetzt erstrecht fächerübergreifend auf Trab. Und wer sich erdreistet, die Welt aus einer mystischen Sicht zu interpretieren wie Watts, macht sich auch heute noch fast überall unbeliebt, denn der Freigeist ist unkontrollierbar, immun gegen Vereinnahmungen jeglicher Art und deckt Lügen auf, die so mancher zur Legitimation seiner Lebensweise benötigt. Wer Alan Watts liest, läuft in jeder Zeile Gefahr, zum Überläufer zu mutieren. Aber wohin läuft man über? Egal, ob man "DIE ILLUSION DES ICH" (1966) oder "DIE WEISHEIT DES UNGESICHERTEN LEBENS/WEGES" (1951) liest: er versucht niemanden von seiner eigenen Weltanschauung zu überzeugen, er vergleicht lediglich Denkweisen in den verschiedenen Disziplinen so tiefschürfend genau miteinander und als persönlich Betroffener so authentisch, daß man motiviert wird, selbst tiefer und weiter zu denken, als hätte man endlich das langersehnte Gespräch mit dem besten Freund geführt, wozu man im hektischen Alltag nie Zeit findet. Die Zeitlosigkeit und das Gefühl für die Gegenwart als gefühlte Ewigkeit sind nicht unbedingt das angesagteste Thema im täglichen Buiseness, obwohl uns das globalisierte Burn-out (und neuerdings sogar ein Bore-out) empfiehlt, auf allen Ebenen der Existenz zu entschleunigen, und zwar weder gestern noch morgen, nein: JETZT lautet das Zauberwort immer wieder, das Alan Watts wie eine mystische Welt- formel in seinen Werken umkreist und bei vielen namenlosen Namen nennt:

"Ich weiß durchaus, dass ich nicht von Dauer bin, sondern dass ich eine zeitweilige Manifestation von Etwas bin, von dem es nichts Etwaseres mehr gibt. (...) Es macht Freude, das nicht bloß als Theorie zu kennen, sondern als positive Wahrnehmung, die man tatsächlich fühlen kann. Daher sehe ich meine Aufgabe darin, soweit irgend möglich dieses Gefühl mit Ihnen zu teilen, damit Sie keine Psychotherapie mehr brauchen, keine Gurus mehr und nicht noch eine weitere Religion. Schwingen Sie einfach mit ein! (...) Wir, jede und jeder von uns, sind keine substanzielle Wesenheit, sondern eine Art Flamme. Eine Flamme ist ein Strom heißen Gases, wie ein Wirbel in einem Fluss, immer sich bewegend, immer sich verändernd, und doch scheint es immer die gleiche zu sein. Jeder von uns ist ein Fließen, und wenn man diesem Fließen widersteht, wird man verrückt. Man ist dann wie jemand, der mit der Hand krampfhaft Wasser festhalten will – je stärker er klammert, desto rascher schlüpft es ihm durch die Finger. So kommt im Leben alles darauf an, sich an nichts zu hängen, sondern alles loszulassen."  (2)

Zitatquellen:
(1) = 1972 in seiner Autobiografie "ZEIT ZU LEBEN"

      (Originaltitel: "IN MY OWN WAY")
(2) = 1973 im letzten Seminar "SPIELEN UND ÜBERLEBEN", in:

      "LEBEN IST JETZT", hrsg. von Mark Watts (1983)

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