15.Nahbellpreis 2014: KAI POHL

Kai Pohl, * 1964 in Wittenburg, Berliner mit mecklenburgischem Migrationshintergrund; Vater (ein Sohn, eine Tochter), Herausgeber und Redakteur (Abwärts!, floppy myriapoda, Schock Edition) und Autor (jüngstes Buch: Solanum nigrum antichoc, Moloko Print 2013).

"WELTHALTIG & WIDERSTÄNDIG" - DAS NAHBELLPREIS-INTERVIEW 2014

"die naturgemäß unscharfe trennlinie verläuft zwischen unterhaltungsproduktionen, die den laden am laufen halten, und untergrund-strategien, die das geschäft unterminieren. (...) ich bezweifle, daß man mit dem schwachen konsens der unbestimmtheit literarischer qualitäten eine revolutionäre lunte zünden kann." (KAI POHL)

 

1.NAHBELLFRAGE (26.2.2014):
ist es wahr, daß du mit deinen fast 50 jahren noch keinen einzigen literaturpreis gewonnen hast? ist das ein gutes oder schlechtes zeichen?

1.NAHBELLANTWORT (26.2.2014):
es gibt leute, die mit fast fünfzig jahren noch kein einziges gedicht geschrieben haben. das muß ja auch kein schlechtes zeichen sein.

2.NAHBELLFRAGE (26.2.2014):
wann hast denn du dein allererstes gedicht geschrieben? könntest du bitte den lesern hier eine kostprobe aus deinen frühwerken geben?

2.NAHBELLANTWORT (27.2.2014):
1984. okai, 5 beispiele, such dir eins aus oder nimm sie alle. ORION ist der einzige komplette text, bei den anderen hab ich die zensurklinge angesetzt:

Alternative

werde nie meine Ideale
an irgendeinen
Nagel der Bequemlichkeit
hängen oder sie eintauschen
auf dem
Jahrmarkt der Illusionen
gegen ein paar klägliche
Stücke Seelenfrieden
(...)


ORION

vierbeinige Spinne
Fadenkreuz Unendlichkeit
dein Bruder sein
mit dir das All durchmessen

und
auf dem Teppich bleibend
das irdische Märchen vollenden
zu deuten
deine Signale
deinem Lockruf folgen


3.NAHBELLFRAGE (28.2.2014):
kannst du bitte das verhältnis zwischen IDEALEN und ILLUSIONEN genauer erläutern, wie du es damals (und heute?) im gedicht "Alternative" gemeint hast, und wie die (falschen? gibt es überhaupt echte?) STÜCKE SEELENFRIEDEN zustande kommen bzw inwiefern du es heutzutage schaffst (oder nicht? assimiliert die matrix des systems jede alternative?), dich diesem nagel der bequemlicheit zu entziehen?

3.NAHBELLANTWORT (4.3.2014):
soll ich jetzt meine eigenen gedichte interpretieren, auch noch solche, die ich vor 30 jahren schrieb? – die "alternative" scheint mir doch recht selbsterklärend zu sein. nur kurz zu den begrifflichkeiten. ideale gründen auf visionen (lat. visio, gen. visionis "das sehen"; zu videre "sehen"), auf einblicken in die wirklichkeit, nicht zu verwechseln mit "wirkungslosen seelenzuständen" (sartre). illusionen, trugbilder, verpeilte ansichten führen auf holzwege, auf denen seinen seelenfrieden finden mag, wer will. im "jahrmarkt der illusionen" klingt heute für mich die gesellschaft des spektakels von guy debord an, die mir bis 1984 allerdings noch nicht in die hände gefallen war. wenn ich nicht wüßte, worin die alternative zum "dienen, maul halten, ranklotzen" besteht, wäre ich dann verdammt zu einem gepflegten apologetentum in der dichterschule des "kapitalistischen realismus", im rattenrennen zwischen elend und glanz? – ich habe nicht vor, die krümel aufzulecken von dem brainfucking* tortengelaber, das die "agenten der schöpferischen zerstörung" aushecken.


*etwas weiterbildung zum stichwort siehe hier


4.NAHBELLFRAGE (5.3.2014):
wie wirkt sich diese radikale position deiner kritik auf dein heutiges kreatives schaffen aus? welche hoffnungen verbindest du mit dem schreiben von lyrik, die sich dem "rattenrennen" entzieht?

4.NAHBELLANTWORT (5.3.2014):
gedichte sind statements, behauptungen. schreiben ist eine selbstbehauptung, um in diesem "schweinesystem" die contenance zu bewahren (daß immmer wieder tiere für die betextung humanitärer scheußlichkeiten herhalten müssen, ist eine sauerei). man soll die leserinnen nicht quälen mit endlosen ergüssen über den sinn oder unsinn des poetisierens, man soll sie lieber mit haltbaren gedichten umgarnen! hier ein beispiel, das die tiere auf seiner seite weiß:


Eine Losung ist noch keine Lösung

Was soll ich mich konzentrieren,
ich bin doch kein Konzentrat.
Folge der Losung der Tiere.
Sie scheißen auf den Staat.

Die Wahrheit steckt im Truthahn,
nicht in der Litanei. Generäle,
bis auf den einen der Streik heißt,
gehn mir am Arsch vorbei.


gedichte sind im besten fall bewußtseinserweiternde maßnahmen; soviel zur hoffnung.

5.NAHBELLFRAGE (7.3.2014):
aber woran könnte man solche "haltbaren" von unhaltbaren gedichten unterscheiden? wie lässt sich das "bewußtseinserweiternde" moment deiner dichtung nachmessen? gibt es indizien? oder bleibt alles nur idealistischer wunsch des symbolisch engagierten dichters, so daß die "selbstbehauptung" (als losung) letztlich nur zur selbstberuhigung (keine lösung) dient, ohne am status quo auch nur annähernd gekratzt zu haben?

 

5.NAHBELLANTWORT (13.3.2014):
schreiben ist immer symbolisch, kratzt nichts an; außer – sinne, verstand, synapsen ... die debatte darüber, wie gedichte sein sollen, mündet schneller als ein regenschauer das meer erreicht in ideologisches brackwasser. der spagat zwischen "losung" und "keiner lösung" gelingt am besten über die LOSLÖSUNG von poetologischen dogmen. für gedichte gelten keine sachzwänge, die ja unreflektierte gewißheiten sind. der formale zug, der durch ein gedicht rollt, muß die schwere der worte, ihre semantischen höfe und ahnungen tragen. das gedicht ist nämlich vor allem ein umherschweifen in reflektierter ungewißheit. klar, es gibt da diese gut beheizten, abgeschirmten abteile, in denen es raunt von mull und von grillen, sinnierend zwischen gras, tuff, leeren schneckenhäusern, den arsch in der asche von verbrannten legenden, während zwei meter weiter, nur sekunden entfernt die wirklichkeit schreiende monster gebiert. der grassierende terror der ökonomie ist ja letztlich ein krieg gegen die eigenen lebensgrundlagen. trotzdem darf ich auch heute liebesgedichte schreiben oder landschaftslyrik. wenn aber terror und krieg komplett draußen bleiben, dann kann etwas nicht stimmen; dann heißt das entweder, daß ich darüber nichts weiß oder daß ich darüber nichts wissen will: "... Bald schon / Werde ich keinen Bettler mehr sehn und kein Elend / Es gibt keine Bettler Es gibt kein Elend" (heiner müller, aus dem gedicht Lernprozess, 1993).

die praktische seite der medaille sind veranstaltungen und publikationen für den schöpferischen dialog, gedankenaustausch mit kollegen und laien, denen zuhören können, die vom alltagsgeschäft schikaniert und plattgemacht werden. dieser abgebobene literaturdiskurs über die rolle der bedeutung, der von florian kessler in der 'zeit' erneut losgetreten wurde, geht mir tierisch auf die ketten, weil er in wahrheit nur der absicherung von pfründen und karrieren dient. ich kenne niemanden außerhalb des literarisch-feuilletonistischen bezugssystems, der sich für dieses betriebsrauschen interessiert; für welthaltige, widerständige texte gibt es aber gerade heute einen bedarf. und solche texte werden heute auch produziert. wer will, kann sie jederzeit nachlesen, müßte dazu nur mal kurz die binde von den augen nehmen. haltbare gedichte sind jedenfalls kein "partyservice" (fauser). schreibe ich, weil ich etwas mitzuteilen habe, oder möchte ich zeigen, daß ich ein handwerk beherrsche? ich als autor entscheide, ob ein gedicht der wahrnehmung dient oder ob ich sublime unterhaltungspossen abliefere für leute, die das gnadenlose ausquetschen des planeten und seiner bevölkerung für die höchste form der weisheit halten. schreiben erweitert das bewußtsein, ich erfahre dabei neues. wenn ein text dann irgendwann auf die wohlwollende geduld einiger leser trifft – um so besser!

6.-13.NAHBELLFRAGEN (16.3.2014):
6. dann wird also widerstand in welthaltigen gedichten nur symbolisch geprobt? 7. aber genügt dir das wirklich? 8. ist der "engagierte" (sartre) aspekt der literatur immer nur INDIREKT statt konkret revolutionär? 9. dichter und leser in einem geduldsspiel vereint, wo die erweiterung des bewußtseins reiner zufall bleibt? 10. und veranstaltungen sind dann ebenso wie publikate nichts weiter als eine weitere farbe im regenbogen des betriebsrauschens, selbst wenn sie als antibetrieb ausgeschmückt werden? 11. wie lässt sich verhindern, daß ein gedicht, das der "wahrnehmung" dient, TROTZDEM nur als "unterhaltungsposse" mißbraucht wird? 12. bedarf es der grundsätzlichen verweigerung jeder industriellen massenreproduktion der poesie, weil ihre widerständigkeit dann automatisch zum oberflächlichen konsum inflationiert oder zur kryptischen beschäftigungstherapie von germanisten verkommt? 13. du löst in mir tausend fragen aus, lieber Kai, ich empfinde deine antworten als hochexplosive andeutungen wie ein pulverfass, das gleich in die luft fliegt! wo geht es hin? wie geht es weiter? hast du eine idee, was wir noch in unserem eigenen leben als dichter bewirken können, außer auf die "wohlwollende" wahrnehmung des weltwachen lesers wie eine gnade angewiesen zu sein? beschränkt sich unsere soziale funktion wirklich nur auf diese bescheidene beobachter-position?

 

6.-13.NAHNBELLANTWORTEN (16.3.2014):
einige meiner aussagen aus meiner letzten antwort hätten vielleicht einer besseren trennschärfe bedurft. so habe ich am anfang des 2. absatzes mit der "anderen seite der medaille" erstmal gutes verbunden, wollte das nicht mit dem "abgehobenen lit.-diskurs" in eins setzen! im gegenteil!

6. ja. ein gedicht ist immer symbolisch. selbst wenn es eine handlung auslöst, es IST NICHT die handlung.

7. selbst wenn es mir nicht genügte, wie kann ich es ändern? "erst kommt das fressen, dann die poesie", könnte man abgewandelt sagen.

8. der schriftsteller als schriftsteller bleibt schriftsteller und "dreht kein rad". der schriftsteller als revolutionär ist dann ein revolutionär, wenn er nicht schriftstellert, sondern revolutionäre taten vollbringt, siehe z.b. franz jungs schiffsentführung.

9. "die erweiterung des bewußtseins" KANN zufall sein, sozusagen eine unbewußte bewußtseinserweiterung. eine bewußte bewußtseinserweiterung setzt voraus, daß mir die gründe für die einschränkungen, denen das bewußtsein im entwickelten kapitalismus unterliegt, bekannt sind. und daß ich diese einschränkungen aufheben kann, also z.b. auf den großen medialen zuschiß scheiße etc.

10. siehe oben. wenn der mündliche oder schriftliche gang in die öffentlichkeit nicht bloß das übliche verdächtige fachpublikum erreicht, dann ist das schon die halbe miete ;)

11. das läßt sich schwerlich verhindern, man ist ja nicht bei jeder mißbrauchsgelegenheit vor ort.

12. man soll nicht die germanisten füttern, man soll den verwirrten, verzweifelten und verängstigten nahrung geben, potential, um die lage zu erkennen und daraus schlüsse zu ziehen. man darf auch gern bücher machen, auflage egal, verlag nicht ganz, solange sie nicht der "karriere" dienen.

13. in der tat, als dichter habe ich eine beobachter- und kommentatorenposition, was aber phantasie, fiktionen, visionen, utopien keinesfalls ausschließt! die texte müssen ja deshalb nicht folgenlos bleiben. natürlich können wir auch lang und breit über die "soziale rolle des autors" disputieren, falls es dazu neuigkeiten geben sollte ;)


Frühlingspfad mit Sonne, Sand, Merde

Tau wird erlöst aus Eisfurunkeln,
Graustufenlaub schlägt sich nieder.
Auf rasenden Narben bäumen sich Krüppel
zu Bückwerk am Boden der toten Sachen.

Frühling, alle Ampeln schalten auf Grün.
Ratten steuern Blutzins für die Autostadt.
Doom-Shopper joggen in weiteren Kreisen,
zum wehenden Duft von Urinstein.


14.NAHBELLFRAGE (26.3.2014):
also werden einerseits "echte" rezipienten (szene-outsider) gesucht, die im saal für den zuwachs an selbsterkenntnis durch die vorgetragenen texte applaudieren, wenn die beteiligten auf der bühne stehen - anstatt der situation auf einem festival für junge literatur vor einigen jahren, wo sich die zuschauerreihen automatisch arg lichteten, als sich alle autoren zur stolzen schlußverneigung von ihren plätzen erhoben und auf die bühne kamen, denn kollegen hatten kollegen beklatscht, ein allzu typischer inzest in JEDER mikroszene wie auf parteitagen! aber die ehemals "romantische" POETISIERUNG findet trotz überwindung ideologischer hypnose weiterhin nur symbolistisch statt, solange der dichter "nur" dichtet anstatt etwas direkt-aktionistisch zu demonstrieren? dann interessiert mich allerdings schon die soziale rolle insofern, als daß man ja gar nicht wissen kann, wo sich die vielen "verwirrten, verzweifelten und verängstigten" in der alltäglichen zerstreuung verstecken! und gibt es auch ratten, die sich als autofahrer verkleiden, um eine grüne welle für revolutionäre zwecke umzufunktionieren anstatt sich überfahren zu lassen? hat diesen sprechenden tieren ein anti-entertainment-gedicht sowohl die verweigerung als auch die wesentlichen verkehrsregeln beigebracht? wäre das eine besondere form von UNSICHTBAREM "popschamanismus" (buchtitel von hel toussaint & thomas nöske), um die strukturen zu unterwandern? kannst du mir ein gedichtbeispiel aus deiner aktuellsten produktion liefern, in dem der "revolutionäre" inhalt den leser fast ZWINGT, zur antisymbolischen tat zu schreiten, obwohl das gedicht eigentlich KEIN politisches pamphlet darstellt sondern eben "nur" ein gedicht bleibt, das aber mit seiner ganz eigenen kraft auf den leser "poetisierend" wirkt?

14.NAHBELLANTWORT (14.4.+1.5.2014):
ich fang mal hinten an, mit einem gedichtbeispiel (werde mich dann gelegentlich zum anfang deines fragekomplexes durchgraben) aus dem zyklus in progress "Aus meiner Literaturwergstatt":


Ein halbes Paar Socken


so, und nun die kurze antwort auf deine lange frage: popschamanismus klingt schon mal besser als bionade-biedermeier. sich nicht überfahren zu lassen ist ja voraussetzung für revolte, egal ob ratte oder lohnsklave. die direkte aktion des autors könnte darin bestehen, aus der sozialen rolle zu fallen und keinen dienst nach vorschrift zu machen, sich heranzuschreiben ans eingemachte, im sinne des slogans von carl einstein: "Bilder sind keine Fiktionen, sondern praktisch wirksame Energien und Tatsachen" – dasselbe läßt sich über gedichte sagen. gegenwärtig scheint es mir wenig angebracht, wohlfühllyrik für eine heile-welt-apologetik zu fabulieren, mich zu "poetisieren" für die ästhetisierung des zerfalls einer "gesellschaft", die gar keine ist, weil schon robert oppenheimer wußte, daß die verbandelung von räubern und beraubten keine gesellschaft begründet, sondern ein system der herrschaft. poesie aber als teil eines schöpfungsaktes, ja. nicht weniger als die welt neu zu schaffen.


die blase schwillt ab
im gewäsch von gestern

noch aus der ferne
blendet das watt


15.NAHBELLFRAGE (9.5.2014):
du scheinst also die hoffnung noch nicht gänzlich aufgegeben zu haben, denn deine thesen eröffnen ja durchaus alternative perspektiven anstatt die aalglatte anpassung im wohlfühlbetrieb einer pseudogesellschaft tatenlos hinzunehmen. hast du denn neben den kritischen/revolutionären auch "visionäre" gedichte geschrieben, in denen sich eine art positiver utopie konkretisiert? oder darf utopie immer nur indirekt als systemkritik stellung beziehen, um nicht selbst wieder zur ideologischen "vorschrift" zu verkommen? schaffst du es in deinem persönlichen alltag, "deine besten jahre" NICHT mit "ausfüllen von formularen" zu verschwenden? oder wie sehr weicht der poetische wunsch von der räuberrealität eigentlich ab? wie erlebst du das in deinem eigenen umfeld generell?

15.NAHBELLANTWORT (29.5.2014):
"Blut kann nicht zu / Tinte werden / Das Geräusch der Tasten kann keine / Militärstiefelparade übertönen / Ein undiszipliniertes Gedicht kann / keinen unterwürfigen Dichter retten / Uns fehlt die Gewalt, zur neuen Sprache zu greifen / Uns fehlt die Kugel, die Macht (rasch) zu verändern / Die Faust, den Tag (rasch) zu verändern / Werden wir ein Gedicht. Werden wir beat. Werden wir Benzin / Lyrik heißt Attacke" – so lauten die ersten zeilen aus dem gedicht "Kein Mitleid mit dem Frieden" von Jazra Khaleed aus Athen, den ich hier aus gegebenem anlaß für den nächsten NAHBELLPREIS vorschlage. der wunsch nach veränderung folgt ja erstmal keiner ideologischen vorschrift, sondern der konkret erfahrenen unerträglichkeit der lage. sich ein leben jenseits der diktatur der kapitalherrschaft vorzustellen, ist ja das einfachste von der welt. die befürworter des herrschenden elends finden die verhältnisse naturalmente völlig in ordnung, weil sie die profiteure sind, die von den elenden mit prunk auf pump versorgt werden. die größte angst der oberstrategen ist daher die vor dem massenhaften unwillen, diesen betrug weiter mitzumachen. aus dieser angst speist sich angies "alternativlosigkeit", aus dieser angst speist sich das madigmachen von utopias, seit es kein "geh doch nach drüben" mehr gibt, aus dieser angst speisen sich die denkverbote, denn wenn man von einem anderen leben träumt, dann bemerkt man früher oder später, daß die ungemütliche soße, in der man umherschwappt, nicht "die normalität" sein kann. ein schlag gegen die verhältnisse kommt aber nicht aus dem dunst optimistischer oden, so etwas geht nur mit den füßen auf dem boden und mit den ohren im rumor.


In Gottes Stundenhotel


sicher habe auch ich schon viel zu oft und viel zu viele formulare ausgefüllt. die vorübergehende lösung liegt erstmal darin, das spiel nicht mitzuspielen – soweit man sich das leisten kann. 95 % der künstler lösen ihr daseinsproblem über prekäre, schlechtbezahlte jobs, über kleinere honorare für werkverkäufe oder auftritte, über zuschüsse von angehörigen … oder über das sog. "alg 2" – wozu kürzlich in einer lesung auf dem festival "rummelsburg 2" der dichter jannis poptrandov meinte, dostojewski hätte sich das nicht gefallen lassen. und genau da liegt der hund begraben: wieviel ist man bereit, über sich ergehen zu lassen, bevor man sich sammelt und zurückschlägt.

16.NAHBELLFRAGE (2.6.2014):
hast du denn das gefühl, daß sich irgendein teil der lyrikszene "sammelt"? siehst du eine "bewegung" am horizont? oder bleibt es bei einzelnen kandidaten, die ihren kopf und die texte von lügen freimachen - und dementsprechend bei einzelnen rezipienten, auf die solche texte stimulierend wirken? auch ich sehne mich schon seit jahrzehnten nach einer veränderung, darum schätze ich auch persönlich so kritische kollegen wie dich, aber es scheint mir letztlich alles im dokumentationswahn als unterhaltungsrausch zu versanden, wie man am beispiel von socialbeat und slampoetry sieht: das eine ist längst "literaturhistorisch" abgehakt (und damit im grunde schon totgeschwiegen, bevor eine wirkung eintrat), das andere, der slam, zum interaktiven fastfoodliteraturformat verkommen (und dadurch entschärft, schon bevor die bombe hier richtig gezündet war). diese entwicklung vom subversiven protest zum gebügelten pop hat ja keine 20 jahre gebraucht und ich vermute, es spielt keine rolle, WOMIT man künstlerische skandale auslöst, denn JEDER kunstskandal etabliert sich paradoxerweise von selbst, einfach INDEM er stattfindet und dadurch ästhetisch-plakativ konsumierbar wird. daher zurück zu meiner frage: sammeln sich teile? wird eine bewegung daraus? oder bleibt es bei einzelnen sternschnuppen, die schneller verglühen, als man überhaupt hinsehen kann?

16.NAHBELLANTWORT (11.6.2014):
wenn es eine sammlungsbewegung auf dem feld der poesie gäbe, dann hättest du sie schon selbst entdeckt, dann hättest du mir die frage gar nicht gestellt. also: nein, es sammelt sich nix. die sternschnuppenmetapher scheint mir dennoch unangebracht. es gibt ja sehr gute vertreter des renitenten schreibens, auch wenn es nicht so arg viele sein mögen, die ihr ding langfristig durchziehen, ohne rücksicht auf anerkennung. was es dagegen sicher gibt, ist ein zusammenkommen in der vielfalt der künstlerischen affekte und äußerungen: auf den neuerdings in berlin-prenzlauer berg steigenden literaturfestivals (die u. a. von der EdK, von der LKO-exekutive und dem verein Prenzlauer Berg Connection ausgehalten werden), in alternativen kulturwirtschaften wie dem baiz, dem lokal oder der rumbalotte continua, in zeitschriften wie der maulhure, der perspektive, dem superbastard oder dem zentralorgan abwärts!, das eine fusion aus den zeitschriften floppy myriapoda, gegner, telegraph und zonic ist (die bis auf den gegner alle weitermachen). eine sammlung und zerstreuung bzw. ver- und entmischung ist dabei nicht zu vermeiden, die alte leier: "je t’aime – wer mit wem?"
"kopf und texte von lügen freimachen" ist schon mal ein guter ansatz; muß man sich gut überlegen, ob man aus den fleischtöpfen essen möchte, in die man zuvor gespuckt hat. – die abwesenheit einer "bewegung" läßt erahnen, wie effizient der "drang nach veränderung" derzeit gedeckelt wird. aber schließlich hat man es selbst in der hand, ob man "leibhaftiger sein [will] / oder leibeigener, dem es schmeckt / daß er gesamtvollstreckt nahrhafte stiefel leckt" (Bert Papenfuß).

17.NAHBELLFRAGE (11.6.2014):
nun ja, in der lyrikzeitung wurde des öfteren aus den reihen sehr junger autoren von einem wunsch nach "poetisierung" gesprochen, autoren, die auch in der form von sehr jungen verlagen untereinander vernetzt sind. bei genauerem hinsehen entpuppt sich das dann als die freude über die erfolgreiche platzierung von publikationen in neu aquirierten buchhandlungen, bleibt also ENTWEDER auf der theoretisch-symbolischen ebene gefangen (ich erinnere mich an das gigantische hugendubel-regal mit "undergroundliteratur" am ku'damm 2003, das ich selber initiierte, das aber mangels verkaufsquote nach einer gewissen probezeit subversiv verramscht und geschreddert wurde: das war demgemäß dann wohl ein poetisierungsversuch, obwohl ich es eigentlich nur als logistischen stress empfand) - ODER bezieht sich auf einzelne stilblüten, die eher anachronistisch (wenn nicht gar psychotisch sprachbesessen!) als progressiv anmuten, obwohl die ideologisch verbandelten rezensenten der jeweiligen mikroszene natürlich von unglaublichen innovationen sprechen. mir scheint es irgendwie gar keine berührungspunkte zwischen der szene zu geben, in der jemand wie du verwurzelt ist, und dem eher akademischen literaturbetrieb, in dem mitglieder institute (statt ihren authentischen seelenbrand wie ein Jonas Gawinski!) in ihrer vita als referenzquelle für professionalität erwähnen. ob diese spaltung zwischen aalglatter wohlfühllyrik und durchgeknallter weltkritiklyrik jemals personell überwunden wird? müssten nicht ALLE wie eine gewerkschaft an einem strang ziehen, um mehr einfluss auf die gesellschaft zu haben? denn eines verbindet doch beide seiten der szene: die sehnsucht nach einer poetischen wirklichkeit. sind vielleicht eher psychografische gründe wie narzißmus und neurosen mehr schuld an den poetologischen rivalitäten unter kollegen als die gedichte selbst? immerhin behaupten doch ALLE, daß es sehr schwer sei zu definieren, was "gute" gedichte sind. ist das nicht quasi ein konsens, mit dem man eine revolution anfachen könnte, weil eine flächendeckende toleranz gegenüber den unterschiedlichen ansätzen möglich ist? ich weiß es nicht wirklich, ich würde sehr gerne von dir eine abschließende einschätzung der lage bekommen und bedanke mich jetzt schon für all deine weitreichenden, ehrlichen antworten! möge dieses interview auch noch in ferner zukunft neue generationen von dichtern ermutigen, sich ein paar "gefährliche" gedanken über ihre arbeit zu machen...

17.NAHBELLANTWORT (12.6.2014):
die "poetisierung" bleibt eine romantische hülse, wenn nicht klargemacht wird, worin sie denn bestehen soll. von der verwendung als werbeslogan zu der aussage "poesie ist marktfähig" liegen nur wenige buchseiten. ich sehe die differenzen nicht zwischen irgendwelchen sparten des sog. "literaturbetriebes", sondern in der entscheidung, sich anzupassen oder sich mit der erneuerung von methoden künstlerischen widerstandes zu befassen. anachronismen sollten anarchismen platz machen, anstelle von progressivem plädiere ich für emanzipatorisches gebaren. schließlich geht es um die weltanschauliche frage, ob man seinen frieden machen kann mit einem system, dessen herrisches wesen ein antisozialer technoid-bürokratischer todestrieb ist. die naturgemäß unscharfe trennlinie verläuft zwischen unterhaltungsproduktionen, die den laden am laufen halten, und untergrundstrategien, die das geschäft unterminieren. die dichtung ist schon eine sehr spannende und kreative domäne des bewußtseins. um herauszufinden, wie "gut" ein gedicht ist, braucht es neben toleranz vor allem verständigungswillen. "poetologische rivalitäten" dienen ja meist der persönlichen profilierung. ich bezweifle, daß man mit dem schwachen konsens der unbestimmtheit literarischer qualitäten eine revolutionäre lunte zünden kann. allein aus ethischen gründen wird wohl jeder eine hemmschwelle bzw. toleranzgrenze haben, jenseits derer eine wie auch immer geartete kollaboration unmöglich ist. egal, so eine feine befreiende zusammenrottung wäre mal wieder an der zeit, und wahrscheinlich wird sie nicht von "dichtern und denkern" losgetreten – doch etwas beizutragen hätten sie auf jeden fall :)

18.NAHBELLFRAGE (12.6.2014):
eine allerletzte frage: was machst du eigentlich sonst so, wenn du dich gerade nicht in den metaphysischen zotteln deiner poetik verhedderst?

18.NAHBELLANTWORT (12.6.2014):
schmökern, schlafen, grüne bohnen kochen, über die autobahn brettern, mauerseglern obdach geben, bootstouren mit kind und kegel an die havelquelle, lesereisen, bevorzugt nach graz, ein kühles störtebecker aus der peene ziehen in meinem verlängerten wohnzimmer, freunde treffen, redaktionspalaver, schock edition, ausstellungen bestücken und ausstellungen besuchen, ein bißchen layout der kohle wegen, nelkenduft und pappelschnee, in die sonne blinzeln, als sei es ein wunder ... "diese aufzählung läßt sich beliebig / fortsetzen" (siehe "öffnen + schießen", gedichte 1989-2006, krash neue edition im stahl-verlag, köln 2007, s. 12)


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