Lord Lässig

"METASOZIALE ANTIPOETIK"

Teil 2 (19.11.2013)

sOMatoform 51: EPIGONALE, EXISTENZIELLE, EKSTATISCHE & ENGAGIERTE LYRIK (DIE METASOZIALE ANTIPOETIK IST KEINE BILLIGE BAUSTELLE!)

Metasoziale hyperreflexionen als fortsetzung von lord lässigs sOMatoform 29: Ausgehend von der zivilisatorischen hypothese einer NARZIßTISCH-ASYMPTOTISCHEN OBJEKTKULTUR als motivationsmatrix der "identitätssuchenden" menschheit unterscheide ich 4 sorten von lyrik, in denen der urschizophrene "kreative druck" seinen literarischen niederschlag findet: die epigonale bejubelt die klassischen (oder/und "klassisch modernen") formen des betriebskanons aus mangel an selbständiger sehnsucht; die existenzielle bespiegelt das ich ohne umwege mit seinen spirituellen selbstfragen nach identität, gott und sinn des lebens; die ekstatische bestaunt die intensität der begegnung zwischen einem abstrakten ich und dem projizierten du; und die engagierte beschreibt die real-utopischen konsequenzen aus den diversen begegnungen. Dabei besteht immer die grundhoffnung in dem metaphysischen irrglauben an die magische macht der wörter als objekthafter ersatz für die eigentliche nonverbale identifizierung des eigenen selbst mit sich selbst anstatt des wortes "ich" und all seinen handlangern. Mit ausgestreckter hand & zunge wühlt sich das entfremdete ich durch den verlust seiner mitte, um eine PERFEKTE PROJEKTION seiner selbst zu inszenieren, weil das bewußtsein dafür verloren ging, daß das gesuchte "paradies" nicht nur vom hintereingang aus theoretisch zurückerobert werden kann sondern vorallem pragmatisch-sensualistisch durch eine überwindung der dualistischen illusion, daß sich die welt in ein innen und außerhalb ihrer selbst einteilen ließe. Die dementsprechend INTEGRALE ERWEITERUNG ALLER SINNE zu einer holistischen weltfühlung erfordert zunächst einmal das scheitern der literarischen mittel auf höchstem niveau: die inflation der hypertrophierten verwechslung aller ausgesprochenen objektivierungen mit der identität des sprechers, um den zwangsphilosophischen mißbrauch der sprache zu spüren. Erst diese arationale anerkennung der prinzipiellen absurdität aller versuche, mit etwas anderem als sich selbst als das eigentliche subjekt identisch zu sein, öffnet den spielraum für eine ganz andere gattung von lyrik als perinzendentalen "fünften weg", nämlich der mystisch-materiellen mischform aus allen vier sorten ohne die bisherige motivation der ontologischen objektivierung von wörtern. Der feine, doch radikale unterschied zwischen zwei zeitgenössischen lyrikertypen mit scheinbar derselben antinarzißtischen deobjektivierungsmethode besteht lediglich in der bewußtseinsverfassung hinter den poetologien: während der eine als entweder pubertär ichloser oder rational ichgläubiger streng sachlich und sprachverliebt die psychoide komponente von vornherein ablehnt, weil seine lebensumstände den ich-zweifel als sprachzweifel (noch) unterdrücken und mangels mystischer selbsterfahrung nur quasimythologische metaphern erfinden lassen, die sich im wettstreit der wortspiele neologistisch verausgaben, erlaubt sich der irgendwann ichbefreite lyriker die unendliche leere hinter der fassade aller erscheinungen mit in sein künstlerisches konzept einzubeziehen, indem er sie nicht mehr "dahinter" ansiedelt sondern ein jedes einzelne wort wie die glaslosen fensterrahmen einer entkernten fassade als selbständigen ausdruck der transdualistischen leere empfindet, soll heißen: der sinn eines wortes liegt dann nicht mehr in seiner symbolik als fingerzeig auf einen weiß leuchtenden -taoistisch andächtigen- vollmond (dazu lese man läuternd erläuternd die subtile selbstfolterszene bei benjamin peret: eine noch so pervers weit herausgestreckte zunge wird den per se fernen mond niemals erreichen können!), sondern erschöpft sich in seiner detranszendentalen direkten mehrdimensionalität [=perinzendenz]*, die wir in den gemälden von lyonel feininger weit eher dargestellt sehen als bei picasso, den dadaisten oder den trivialkonkreten. Aber nicht nur bei den malern gibt es die sogenannten frühwerke und spätwerke, denn auch jeder lyriker macht selbstverständlich im laufe des lebens als mensch einige wandlungen dank kritischer erkenntnisse & ereignisse durch, die ihn vom epigonalen fetischismus über den experimentellen fanatismus allmählich zu seiner eigenen freien sprachlichkeit führen, wobei man sich nicht allzu voreilig aufgrund des rein biologischen alters und der dadurch suggerierten abgeklärtheit täuschen darf: Eine befreite (und dadurch auch sprachfreie statt sprachlose) begegnung zwischen dem früher oder später "erlösten" (in sich selbst ruhenden), konkretisierten ICH und dem entprojizierten DU findet nur statt, wenn die entscheidenden fragen vom ich an sich selber gestellt & gelöst wurden, und zwar epigonal, existenziell, ekstatisch und engagiert! Manch ein gefeiertes spätwerk kann daher als unreifes, fast peinliches spätfrühwerk entlarvt werden, während auch "frühvollendete" jugendwerke die anmutige alterweisheit eines lebenserfahrenen ausstrahlen können. Auch hier kann womöglich die eigendynamik des rezipienten weit mehr interpretationsspielraum eröffnen als sich der lyriker selbst jemals erträumt oder gewünscht hätte. Aus einem neurotischen narren kann der betrieb ein genie machen, und ein genie kann vielleicht in der medialen zeitgeisthypnose übersehen werden, ja manchmal sich selbst nicht erkennen, weil das gesagte so naheliegend gesagt werden muß, daß sich der sagende selbst dabei nicht sonderlich sagenhaft vorkommt. Aber worüber sich jeder, der denkt und poetisch schreibt, einigermaßen rechenschaft abzulegen bereit sein sollte, sind die psychologischen grundausstattungen seiner eigenen wahrnehmung von welt & seele, um die generelle motivation zur kreativität nachzuvollziehen, damit weder der dichter noch seine leser vom werk etwas verlangen, was rezensionen behaupten oder der klappentext einem verklickert. Weder lektoren noch journalisten verfügen über die autorität als sekundäre autorenschaft, um werke zu definieren, als stünde das arme gedicht vor gericht und hätte keinen mund, um sich selbst zu verteidigen. Letztendlich spricht jedes werk für sich selbst in seiner eigenen sprache, ganz gleich, ob die botschaft neurotisch beeinflusst, klassizistisch beschönigt, avantgardistisch bereinigt oder brutal innovativ erscheint. Wenn es dem leser in dessen gesamtsituation irgendwie gut tut, ja hilft, seinen persönlichen bezug zur seele & welt ein stück weit besser zu verstehen, hat es als literaturtherapeutisches produkt mehr bewirkt, als das idealistisch anmaßend "antitherapeutische" selbstzweckgedicht jemals im stande wäre. Von diesen bemühten gedichten, deren geschmack an den teuren hustensaft erinnert, den man nach einigen ferngesteuerten, örtlich betäubten sekunden wieder erbrach, habe ich nichts zu erwarten, sie können mir gerne gestohlen bleiben...


* der Neologismus "Perinzendenz" (per & in stehen für "durch" & "drin" statt der religiösen Hoffnung eines Etwas "hinter den Dingen") ist inspiriert durch HEL ToussainT, der in einem Gespräch mit De Toys (im Jahre 2002) anmerkte, daß dessen Ergänzung vieler klassisch-mentaler Begriffe mit der Vorsilbe "trans" (zwecks Überwindung ihrer dualistisch-idealistisch-illusionären Inhalte hin zu einer parallelistisch-mehrdimensionalen Spektralwahrnehmung) bei dem konservativen Glaubensbegriff der Transzendenz ad absurdum geführt wird.


N A C H T R A G

Die gesamte zivilisation als versuch, unsere angst vor der kosmischen entgrenzung zu bändigen, indem wir symbole und rituale erfinden, die das entgrenzte nur darstellen, ohne sich ihm direkt ausgeliefert zu fühlen. Die kontrolle des kosmischen wird als subtiler zwang zur zivilisation geschichte machen. (...) Das freiwerden von aller objektkultur führt nur zum zwanghaften wunsch, alle objekte perfekt zu kontrollieren. Je harmonischer alles in gesetzestreuer ordentlichkeit herumsteht desto unspürbarer die angst vor der unordnung. Der staat als verdrängung der urängste. Kultur als geschicktes ablenkungsmanöver von unterdrückten entgrenzungen. Kosmische konkretion oder kulturelle abstraktion? Das abstrakte wird nicht mehr als symbol empfunden sondern konkret zelebriert. (...) Wir spielen zivilisation. Und erfinden symbole für freiheit. Die urschizophrenie. Das gesprochene ich ist die psychose der schrift. (...) SYMBOLISCHES LEBEN. Der bürger bewegt sich ahnungslos angepaßt durch seine rituale und glaubt dabei, er sei frei und ein kreatives individuum. (...) Wer sich verweigert, muß die naturgesetze boykottieren. Wer FÜHLEN will, muß ZERFLIEßEN. Ziviler ungehorsam gegen das eigene ich. Zersetzung aller theorien. Auflösung aller philosophien. Überwindung jeder psychologie. Das gehirn denkt sich selbst. Das bewußtsein ist sich seiner bewußtheit bewußt.
De Toys, in: "SEHNSUCHT & SELBSTSABOTAGE"
(sOMatoform 25, 23.8.2013)

Ich versuche, mein ich in harmonische objekte zu projizieren, um mich nicht mehr in meinem eigenen körper zu spüren! (...) Hat JEDER MENSCH, der wirklich schöpferisch tätig ist, einen notwendigen ÜBERKOMPENSATORISCHEN SEELENIMPULS, ohne den weder bäcker, mechaniker, ärzte, architekten, präsidenten noch alle anderen berufe insgesamt produktive ergebnisse vorzeigen würden? Bedeutet dies umgekehrt, daß die BEFREIUNG DER GESELLSCHAFT VON IHREN TRAUMATA die gefahr birgt, daß alle wirtschaftsbereiche abschwächen würden? (...) es gibt eine INHALTLICHE (thematische) kompensationkraft bei jener kunst, die aus mangel an glücklichen sinneseindrücken entsteht, und eine ENERGETISCHE (motivatorische) überkompensation bei jener kunst, die aus dem lebendigen luxus der überfülle erwächst.
De Toys, in: "KREATIVER K(N)OPFDRUCK & KULTURKRITIK"
(somatoform 26, 24.8.2013)

Die angst vor der rückkehr des ichs in den eigenen körper liegt nicht nur am übertriebenen schmerzgedächtnis sondern zur anderen hälfte am gesellschaftsuntauglichen overflow permanenter gottfreier offenbarkeit der letzten antwortfreien fraglosigkeit: die überwindung der religiösen urschizophrenie (...) Das IMAGINÄRE JENSEITS aller traditionellen glaubenssysteme hypnotisiert das entfremdete ich ebenso paranoid wie die modernsten projektionen (...) zumal die aktive beteiligung an den neuen ritualen der objektkultur als sterile ersatzsinnlichkeit das gefühl suggeriert, wirklich lebendig zu sein (...) Das kreiseln um ein imaginäres zentrum sabotiert in diesem angstbefreiten endstadium seine eigene absurdistische selbstsuche und fällt durch den trichter in seine direkte KOMPLEXE KÖRPERLICHKEIT zurück, ohne sich einen metaphysischen begriff für materie einbilden zu müssen...
De Toys, in: "GRUNDLOSE INWESENHEIT - STATT ABSOLUTER ABWESENHEIT DURCH PERFEKTE PROJEKTION"
(sOMatoform 27, 27.8.2013)



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